Wie uns die Aufregung voneinander entfremdet

Regen wir uns heute zu schnell über Dinge auf? Hat die Pandemie diese Entwicklung beschleunigt? In ihrem Buch «Demokratie aushalten! Über das Streiten in der Empörungsgesellschaft» wirbt die deutsche FDP-Politikerin und Juristin Karoline Preisler für offenere Debatten und erklärt im Interview, warum uns nur das Zuhören weiterbringt. 

Leben wir heute in einer Empörungsgesellschaft, die den Ton in Diskussionen verschärft hat? 
Ja. Aus diversen Gründen. Seit Beginn der Pandemie finden viele Diskussionen viel häufiger virtuell statt. Alleine vor dem Bildschirm schreiben wir eher frei von der Leber weg und wahren oftmals zu wenig Contenance. Wir sehen unser Gegenüber nicht und schauen ihm nicht in die Augen. Das führt dazu, dass wir ganz schnell andere Menschen verletzen. Es ist aber auch so, dass die Debatte Regeln benötigt und wir diese immer wieder neu verhandeln müssen. Schon darüber zu diskutieren, ob rechtsextreme Äusserungen durch die Meinungsfreiheit gedeckt sein sollen, kann dazu führen, dass Menschen sich viel häufiger trauen, antisemitische Thesen zu äussern. Mir fällt auch auf, dass der Wunsch nach schnellem Applaus grösser geworden ist. Die meisten Likes auf Social Media bekommt der*diejenige mit der drastischsten Formulierung. Ganz unabhängig davon, ob diese anständig ist, durch Fakten untermauert oder etwas zur Diskussion beiträgt.
                 
Worüber wird sich denn aufgeregt und warum so heftig?
Über alles Mögliche. Und warum? Weil es Spass macht, sich über etwas aufregen zu können. Früher war der Marktplatz jeweils der Mittelpunkt des Ortes. Dort konnten die Menschen so richtig schön debattieren. Nachdem alles besprochen wurde, ist hinterher jede*r glücklich nach Hause gegangen. Das fehlt jetzt. Gerade in den Zeiten, wo menschliches Miteinander zu kurz kommt, wo Familienfeiern nur noch selten stattfinden, wo andere Begegnungsräume nicht mehr da sind. Auf das Bedürfnis nach Klatsch und Tratsch will aber niemand verzichten, teilweise auch mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit. Wir akzeptieren deshalb heute viel eher, dass Menschen öffentlich gedemütigt werden. 
                 
Haben die sozialen Netzwerke demnach einer Art unkontrollierbarer Beschimpfungs- und Empörungskultur Tür und Tor geöffnet?
Ja. Die Kommunikation im Netz ist unendlich. Was auch immer wir beschränken, irgendwo anders geht dafür ein neuer digitaler Raum auf. Wer ein Gespräch ohne jede Begrenzung führen will, findet im Darknet seine Ansprechpartner. Ich denke, das Bedürfnis, sich auszutauschen, Bestätigung zu erfahren oder über jemand anderen zu reden, um auch einmal Dampf abzulassen, gab es schon immer. Heutzutage leiden wir aber darunter, dass dies fast grenzenlos passieren kann. Widerspruch kann man ausblenden. Da werden beispielsweise frauenverachtende Aussagen kommentarlos veröffentlicht oder Migration sehr einseitig dargestellt. Als Folge dieser einseitigen Darstellung im virtuellen Raum erfahren Menschen im realen Leben dann oft Gewalt.

Ein Beispiel für gesellschaftliche Empörung ist die aktuelle Debatte über Rassismus in Kinderbüchern. Wie beurteilen Sie diese?
Meiner Meinung nach muss sich damit auseinandergesetzt werden, ob Cancel Culture in der Sprache immer ein sinnvoller Prozess ist. Ich hätte mir gewünscht, dass bei Literatur, die schon geschrieben steht, eine andere Lösung angestrebt wird. Dass man nicht Otfried Preusslers oder Astrid Lindgrens Bücher verfremdet, sondern stattdessen die Leser*innen beispielsweise durch Fussnoten oder durch eine Trigger-Warnung zu Beginn des Buches darauf aufmerksam macht, dass es sich hierbei um ein historisches Buch handelt und in diesem die verwendete Sprache nicht mehr zeitgemäss ist. Selbstverständlich habe ich einen anderen Blick auf diskriminierungsfreie Sprache als eine Person of Color. Eine diskriminierte Person muss sich jeden Tag anhören, dass das alles nicht so schlimm sei. Umso wichtiger ist der Austausch darüber. 

Auch um Kindern zu erklären, warum etwas nicht mehr gesagt werden sollte. Ansonsten ist die Gefahr gross, dass sich die Fehler der Vergangenheit ständig wiederholen.
Das sehe ich auch so. Es bringt nichts, ein Monument abzureissen, weil es aus einer Zeit stammt, in der Menschen ausgebeutet wurden. Damit verschwindet auch der Ort der Erinnerung an die Geschichte und an begangene Fehler. Sobald man die Sprache in diesem Kontext schleift, denkt niemand mehr. Ich glaube, dass wir unseren Kindern sehr wohl zumuten können, selbst richtig und falsch zu beurteilen, wenn wir ihnen den Zusammenhang aufzeigen und erklären, warum gewisse Bezeichnungen von damals heute verletzend sind. Wenn wir uns das sparen, weil wir von vorneherein alles permanent politisch korrekter machen wollen, findet gar keine Debatte mehr statt. 

Inwiefern hat die Covid-Krise die Diskussionsbereitschaft begraben und die Reizbarkeit befeuert?
Sie hat vermehrt antidemokratische Rückzugsräume geschaffen, in denen man sich treffen und radikalisieren kann. Zwar bekam auch Jesus, als er vor 2000 Jahren in die Synagoge ging und seine Ideen vorstellte, Gegenwind zu spüren. Doch er konnte wenigstens eine Diskussion führen, weil die Synagoge ein Raum der Begegnung und des Dialogs war. Das funktioniert im Internet nicht. 

Was haben Sie in der Auseinandersetzung mit der Pandemie selbst für Erfahrungen gemacht? 
Ich habe festgestellt, dass ich zuvor viel zu selbstgefällig war. Ich habe mich ausschliesslich in Kreisen bewegt, in denen ich viel Zuspruch erfuhr. Auf diese Weise konnte ich mein Leben sehr schön in geraden Linien führen, ohne mit Gegenmeinungen konfrontiert zu werden und habe dadurch einen Grossteil der Gesellschaft exkludiert. Für mich als jetzt 50-jährige Politikerin war es bitter, einzusehen, dass ich in den letzten Jahrzehnten sehr viel falsch gemacht habe. Die Erkenntnis daraus war, von nun an öfter meine eigene Komfortzone zu verlassen und mich mehr um die Menschen zu kümmern, die mir widersprechen. 

Sind Sie deshalb auch bewusst auf die Strasse gegangen?
Meine Intention war erst eine andere. Ich war an Covid-19 erkrankt und nach meiner Genesung hatte sich auf einmal die Gesellschaft stark verändert. Die Sprache war viel rauer geworden. Plötzlich schwappte mir Hass entgegen, weil einige davon überzeugt waren, ich hätte die Seuche in die Stadt gebracht. Das hat mir gezeigt, dass gerade richtig etwas im Argen liegt. Als dann die ersten Demonstrationen gegen die Corona-Massnahmen stattfanden und viele die Krankheit verleugneten, wollte ich darüber aufklären und habe das Gespräch gesucht. Daraufhin sind etliche Menschen auf mich zugekommen – schonungslos in ihrer Kritik an allem Möglichen. Der Redebedarf war enorm und traf mich unvorbereitet. Schon bei der nächsten Demonstration hatte ich Adressen von Anlaufstellen dabei und habe versucht, Kontakte zu vermitteln. Ich habe mit Antisemiten gestritten und mit Flüchtlingsgegnern. In vielen schlummerte die Unzufriedenheit schon seit mehreren Jahren. Sie fühlten sich von der Politik weder gehört noch gefragt. Die Pandemie hat dieses politische Versagen noch verstärkt. Die Chance liegt nun darin, diese Gräben zuzuschütten und den abgerissenen Gesprächsfaden wieder neu zu knüpfen. 

Selbst in den christlichen Kirchen tun sich Konservative und Progressive schwer, Kompromisse zu finden. Was bedeutet diese Entwicklung für das kirchliche Miteinander?
Ich wünschte mir, dass wir uns gegenseitig alle einen Vertrauensvorschuss gewähren. Damit wir davon ausgehen können, dass unser Gegenüber uns nicht persönlich angreift, wenn er*sie eine andere Meinung hat. Wir müssen uns dieses «Alles-persönlich-Nehmen» und «Gekränktsein» abgewöhnen. Gerade in der Kirche müssen wir akzeptieren, dass Menschen Glauben anders leben oder religiöses Leben viel vielfältiger ist, als wir es bisher angeboten haben. Das versuche ich sowohl als gläubiger Mensch als auch als Vorstandsmitglied der Deutschen Bibelgesellschaft zu leben. Wir müssen Kritik als Chance begreifen, um als christliche Gemeinschaft besser zu werden. Diese Kritikfähigkeit sehe ich oft nicht. Vielleicht bringt der jetzige Fachkräftemangel in der Kirche auch etwas Gutes mit sich. Die vielen jungen Menschen und Quereinsteiger, die neu im kirchlichen Umfeld arbeiten, können mit ihrem Hintergrund und anderen Perspektiven etwas verändern.

Können wir heute noch konstruktiv streiten? 
Wir haben es verlernt. Häufig lassen wir ausser Acht, dass wir uns durch das rigorose Ausklammern anderer Meinungen selbst die Chance nehmen, besser zu werden, einzusehen, dass wir eventuell falsch lagen, und die eigene Ansicht korrigieren zu können. Richtiges Streiten setzt ein Grundverständnis über die gegenseitige Akzeptanz der Regeln unserer Zivilgesellschaft voraus. Ich höre so lange zu, bis mein Gegenüber ausgesprochen hat, und bedanke mich anschliessend für die offenen Worte. Auch wenn ich vielleicht eine ganz andere Meinung habe und er*sie schreckliche Dinge gesagt hat, verzichte ich darauf, ihn*sie herabzusetzen und zu demütigen. Leider vermitteln wir anderen täglich, dass sie aufgrund ihrer Herkunft, ihres Aussehens oder ihrer Begabungen nicht Teil einer Debatte sein dürfen. Wir müssen jedoch alle so annehmen, wie sie sind. In der Achtung voreinander liegt der Sinn der Schöpfung und in der heutigen Gesellschaft besteht ein grosses Bedürfnis danach, dass den Menschen jemand zuhört, der ihnen zugewandt ist.

Interview: Sarah Stutte, forumKirche, 03.03.2022
 

Karoline Preisler
Quelle: zVg
Karoline Preisler führte auf Twitter ein Corona-Tagebuch über ihren Krankheitsverlauf und die Begleiterscheinungen.

 

 

Stühle
Quelle: pixabay.com
Die FDP-Politikerin wünscht sich, dass sich Menschen wieder vermehrt in der realen Welt zusammensetzen und sich zuhören.

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